Sonntag, 6. September 2015

Auch Deutsche waren Flüchtlinge!

Foto: Pixabay
Normalerweise schreibe ich in diesem Blog über die „Liebe“, Kunst und alle möglichen Themen für Singles. Nachdem ein Berliner Facebook-Nutzer das Foto des ertrunkenen syrischen Flüchtlingsjungen mit Hassparolen kommentiert hat (Spiegel Online berichtete am 5. September 2015), brennt es mir auf der Seele, mich jetzt auch zur Flüchtlingskrise zu äußern.

Den meisten von uns geht es in Deutschland doch viel zu gut, um sich Verfolgung und Bedrohung nur ansatzweise vorstellen zu können. Zugegeben, ich selbst bin keine Ausnahme. In mehr oder weniger behüteten Verhältnissen aufgewachsen, hatte ich wie alle anderen Deutschen meiner Generation das Glück, von Krieg oder kriegsähnlichen Zuständen verschont geblieben zu sein. Eine solch komfortable Ausgangssituation macht es leicht zu wettern: „Die Flüchtlinge kriegen von Frau Merkel Smartphones hinterher geworfen!“ Ich zitiere eine Person aus meinem Bekanntenkreis, deren Namen ich hier nicht nennen werde. Es handelt sich eh um einen harmlosen Irren, der keine wirklich rechtsradikalen Äußerungen von sich geben würde.

Ignoranz gegenüber der Flüchtlingsproblematik bringt uns trotzdem nicht weiter. Ja, sie zeugt vom Vergessen der eigenen Geschichte: Auch „wir“ Deutsche waren Flüchtlinge! Nehmen wir als Beispiel meine Großmutter väterlicherseits. 1923 in Pommern geboren, musste sie Anfang 1945 mit ihrem Baby vor der Roten Armee fliehen. Sicherlich war ihr von ihrem Hab und Gut nicht viel mehr geblieben als ein Koffer und die Kleidung am Leib. Sie trat die Flucht über die Ostsee an. Am 30. Januar 1945 wollte meine Oma mit ihrer Tochter an Bord der Wilhelm Gustloff gehen. Weil das Schiff in Gotenhafen (heute: Gdynia) schon restlos überfüllt war, ist es überhaupt möglich, dass ich die Geschichte jetzt mit Euch teile. Wäre sie nämlich nicht gezwungen worden, auf das nächste Flüchtlingsschiff zu warten, hätten russische Torpedos sie mit hoher Wahrscheinlichkeit in den Tod gerissen – wie knapp 10.000 andere Flüchtlinge auch.

Meine Großmutter hatte also Glück im Unglück, könnte man meinen. Ob sie jemals den Tod ihres Babys verkraftet hat? Nach der Überfahrt nach Dänemark starb die Kleine an einer Erkältung. Medikamente waren zu Kriegszeiten Mangelware und den „Feind“ ließ man lieber verrecken.

Solche Erlebnisse traumatisieren Menschen zu jeder Zeit. Der Vater des ertrunkenen Jungen aus Syrien hat übrigens während der Flucht übers Mittelmeer auch dessen fünfjährigen Bruder und die Ehefrau verloren. Wie mag er sich fühlen, wenn er Hasstiraden liest statt Nächstenliebe?

Anscheinend gelingt es meinen Landsleuten mit rechtem Gedankengut nicht, über den eigenen Tellerrand hinweg zu blicken. Der Bürgerkrieg in Syrien ist einfach zu weit weg und kratzt nicht an unserer Komfortzone hierzulande. Ich erinnere mich noch gut an die Horrormeldungen aus dem jugoslawischen Bürgerkrieg in den 90er Jahren. Natürlich fand ich das alles „sehr schlimm“, aber wirklich im Innern tangierten mich die Nachrichten nicht. Heute, nachdem ich einige der ehemaligen Kriegsgebiete bereist, mit Einheimischen gesprochen und Häuser mit Einschusslöchern gesehen habe, würde ich Rotz und Wasser heulen ...

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